Ab und zu eine Tür aufmachen, damit es ein bisschen leichter geht
- andreageisslitz
- 3. Juni
- 7 Min. Lesezeit
Unser Oberstufen-Team Claudia, Eva, Florian und Tanja bereitet unsere 9. und 10. Klässler*innen auf den Qualifizierten Hauptschulabschluss und auf den Mittleren Schulabschluss vor. Dabei gelingt es Jahr für Jahr, das alle oder fast alle Schüler*innen den angestrebten Abschuss erreichen. Oberstufenlehrer Florian berichtet, wie in der Oberstufe gearbeitet wird und wie die Lehrer*innen die Jugendlichen auf diesem Abschnitt ihres Lebenswegs begleiten.
Florian, in der Oberstufe bereitet Ihr unsere Schüler*innen auf den Qualifizierenden Hauptschulabschluss und auf den Mittleren Schulabschluss vor. Wann gilt der Quali beziehungsweise der Mittlere Schulabschluss als bestanden?
Der Quali setzt sich zusammen aus den Noten Mathematik, Deutsch und Englisch, die jeweils doppelt zählen. Dazu kommt das BOW-Fach (Berufsorientierendes Wahlfach) plus WiB (Wirtschaft und Beruf) in der sogenannten Projektprüfung, die sich über vier Tage erstreckt und auch doppelt zählt und ein Wahlbereich, der einfach zählt, z.B. Sport, Informatik oder Kunst. Wenn der Schnitt aus allen Bereichen maximal Note 3,0 ist, gilt der Quali als bestanden. Beim Mittleren Schulabschluss ist es ähnlich. Nur fällt da der harte Notenschnitt weg. Es ist eine Herausforderung, diesen Schnitt zu schaffen. Man kann sich in der Prüfung keinen Ausrutscher leisten.
Der Anteil unser Schüler*innen, die die Prüfungen bestehen, ist über die Jahre gleichbleibend sehr hoch, die Leistungen in den einzelnen Fächern schwanken aber stark. Wie erklärst Du Dir das?

Notendurchschnitte finde ich wenig aussagekräftig. Wir haben hier vom Förderschüler bis zum Hochbegabten alles in einer Klasse. Wenn wir in einem Jahrgang mehr Jugendliche im Förderschulbereich haben, sind die Noten natürlich nicht so gut und es kommt auch vor, dass Prüfungen nicht bestanden werden.
Wenn wir in einem Jahrgang aber ein oder zwei Hochbegabte haben, zieht das den gesamten Notenschnitt nach oben. Bei 20 Prüfungsschüler*innen sind zwei Schüler*innen eine Stellschraube, die die Werte ganz massiv verändern kann.
Dazu kommt, dass die einzelnen Prüfungsteile jedes Jahr unterschiedlich schwer sind und nach den Corona-Jahren Zeitzuschläge hinzukamen, die jetzt wieder abgebaut werden. Also ist auch in den Prüfungen selbst eine Varianz drin.
Wie arbeitet Ihr in der Oberstufe auf das Ziel Quali bzw. Mittlerer Schulabschluss hin?
Wir machen in der Oberstufe einen Spagat zwischen Montessori-Schule und Regelschule, weil wir in der Oberstufe natürlich viel stofflastiger sind. In den Jahren eins bis acht nehmen wir uns in Niederseeon die Freiheit, dass unsere Schüler*innen die unglaublichen Werte, die eine montessorische Ausbildung mitbringt, im wahrsten Sinne des Wortes genießen können. Sie können sich neben der Beschäftigung mit den normalen Lehrplanthemen auch um ihre Persönlichkeit, um ihre Entwicklung und Entfaltung in anderen Bereichen kümmern.
Wir haben als alternative Schule die Möglichkeit, eine Vergleichbarkeit mit den Staatsschulen erst nach neun bzw. zehn Jahren herstellen zu müssen. Damit können wir davor lebendig bleiben und müssen nicht schon ab der Grundstufe auf den Quali hinarbeiten.
Das bedeutet aber auch, dass wir in der Oberstufe ein ganz ordentliches Tempo vorlegen müssen und die Prüfungsvorbereitung sehr im Fokus steht.
Wir sehen aber, dass die Schüler*innen bei uns mit einer großen Bereitschaft, viel Input aufzunehmen, ankommen. Sie sind nicht schulmüde und ziehen das dann ein oder zwei Jahre durch, je nachdem, welchen Abschluss sie erreichen wollen.
Wir begleiten sie hier, so dass sie am Ende den gleichen Stoff und Wissenstand haben wie Regelschüler. Denn die Prüfungen sind die gleichen.
Wie bereitet Ihr Eure Schüler*innen auf die Prüfungssituation vor?
Unsere Schüler*innen wachsen – wenn sie die ganze Schulzeit in Niederseeon waren – ohne Noten auf. Nun sollen sie aber auf Noten hinarbeiten. Das heißt auch unter Zeitdruck arbeiten, in Turnhallen mit Tischen, die mit Abstand aufgestellt sind und so weiter. Erschwerend kommt hinzu, dass - anders als bei den Regelschüler*innen - bisher im Jahr geschriebene Noten nicht in den Schnitt einfließen. D.h. 15 Minuten mündliche Prüfung in Englisch sind eine halbe Quali-Note.
Deshalb trainieren wir hier die Prüfungssituation, damit die Jugendlichen genau wissen, was auf sie zukommt. Immer wieder und wieder. Dann kann sie mental nichts mehr durcheinanderbringen und sie können diese 15 Minuten Englischprüfung optimal gestalten.
Das gleiche machen wir in Deutsch und Mathe. Hier schreiben wir Prüfungen aus den Vorjahren. Zum einen, um den Stoff zu üben, aber teilweise auch mit Uhr und Platzkarten. D.h. die Schüler*innen kennen den Ablauf, der dann im Sommer bei den echten Prüfungen auf sie zukommt.
Wir sind außerdem sehr stark daran interessiert, dass die Jugendlichen Praxisfächer in der Prüfung wählen, die wir in Niederseeon anbieten. Es ist eine unserer großen Stärken, dass die Kinder ab der ersten Klasse in den Werkstätten und der Küche sind und hier eine sehr fundierte Ausbildung genießen, um die uns alle anderen Schulen beneiden.
Unsere Kinder kochen beispielsweise für die ganze Schulgemeinschaft und stehen da wirklich im Leben. Deshalb finden wir es schön, wenn sie das als Prüfungsfach auswählen. In der Regel erhalten sie dann auch sehr gute Bewertungen.
Wie laufen die Prüfungen genau ab?
Wir sind im Prinzip eine externe Klasse der Prüfungsschulen. Meine Kolleginnen ich machen auch Noten für die Schüler*innen der Prüfungsschulen. Wir sind dort mittlerweile anerkannt und begehrt.
D.h. von uns ist bei der jeder Prüfung jemand als vertrautes Gesicht, als Aufsicht oder zur Korrektur dabei.
Das macht es natürlich leichter, weil wir in der Prüfungszeit an den Prüfungsschulen fast schon ein zweites zu Hause haben. Und manche Prüfungen, z.B. Technik, finden auch hier in den Werkstätten statt.
Was ist aus Deiner Sicht das Erfolgsrezept des Oberstufen-Teams?
Eine Hauptsäule, auf der wir aufbauen, ist es, den Jugendlichen die Angst vor den Prüfungen zu nehmen, den Schüler*innen die Sicherheit zu geben, dass sie wissen, was auf sie zukommt, dass sie gut vorbereitet sind. Und dabei nie zu vergessen, was diese Schule letztendlich groß gemacht hat, nämlich dass alles auf einer Beziehungsarbeit basiert und dass wir diese Beziehung in jeder Situation aufrechterhalten, dass sie krisensicher ist.
Dadurch haben wir das Vertrauen unserer Schüler*innen, dass sie auch annehmen können, was wir sagen, z.B. „Sorge gut für dich, damit du durchkommst.“
Gerade in dieser doch sehr kondensierten Zeit ab April ist das sehr wichtig. Da geht es Schlag auf Schlag. Da gut durchzukommen mental und fachlich, ist eine große Aufgabe. Und am Ende schütteln sie sich hoffentlich und gehen unbeschädigt raus.
Wichtig ist auch, dass wir in der Oberstufe ein sehr stabiles Team haben. Es spricht von Qualität und Anerkennung, dass alle wissen: „Wenn die Oberstufe losgeht, dann läuft das.“
Sind wir im Prüfungsbetrieb, geht es Schlag auf Schlag mit wöchentlich veränderten Stundenplänen, um möglichst viele Probeprüfungen unterzubringen. Es ist ein sehr volatiles System, aber volatil nur in seiner Ausprägung. Im Inneren ist es sehr stabil, weil wir genau wissen, was wir tun.
Wie geht Ihr mit Schüler*innen um, die sich schwerer tun?
Wir haben immer mal wieder Förderschulkinder. Und wir sehen immer noch die Nachwirkungen von Corona. Wir haben dramatische Einbußen an Konzentrationsvermögen, Durchhaltevermögen und auch teilweise an fachlichem Wissen. Da haben auch wir keine Lösung, die wir aus der Schublade ziehen. Wir versuchen diesen Kindern so lange wie es geht einen individuellen Weg zu ermöglichen, um diese Lücken zu schließen.
Welche Schüler*innen gehen weiter in die 10. Klasse?
Wir können hier in der 10. Klasse maximal 18 Schüler*innen haben, weil wir räumlich begrenzt sind. Gut arbeiten kann man mit 15, 16 Jugendlichen.
Deshalb müssen die Schüler*innen, die bei uns den Mittleren Schulabschluss machen wollen, einen 2,3er Schnitt beim Quali in Mathe, Deutsch und Englisch schaffen. Zusätzlich müssen sie 50 Prozent der Tests, die wir in Physik/Chemie/Biologie (PCB) und Gemeinschaftskunde/Geschichte/Politik/Geographie (GPG) schreiben, nachweisen. Das sind Prüfungsfächer beim Mittleren Schulabschluss in der 10. Klasse.
Wie werden die Schüler*innen bei der Entscheidung Ausbildung vs. weiter zur Schule gehen begleitet?
Da sind wir in den beiden Jahren stark dran. Wir haben die Berufsberatung im Haus, also Johanna Retzlaff, die Termine anbietet, zu denen die Jugendlichen gehen können.
Und wir Lehrer schauen da auch drauf. Gerade für die viele Jungs wäre es so wichtig, rauszugehen und sich als wirksam zu empfinden.
Das bayerische Schulsystem ist super durchlässig. Wer seine Ausbildung macht, kann dann dasselbe tun wie mit einem Mittleren Schulabschluss, hat aber eine fertige Berufsausbildung.
Und dieses bequem auf der Schulbank rumsitzen ist auch nicht entwicklungs-förderlich. Es gibt einige, die die zehnte Klasse machen, weil sie nicht wissen, was sie tun sollen. Das ist so ein Aufbewahren und dafür steht diese Schule eigentlich nicht und es tut den Kindern nicht gut, deshalb finde ich es sehr schade, wenn es trotzdem gemacht wird.
Für mich ist das der Königsweg: Ich mache Schule für neun Jahre, dann mache ich eine Ausbildung. Dann kann ich etwas, was Wert hat. Und dann treffe ich eine Entscheidung als Volljähriger. Wir entwickeln auf diese Weise Menschen, die mit einer ganz anderen Reife und Klarheit ihren schulischen Weg fortsetzen. Also eben nicht Abschluss auf Teufel komm raus, sondern schauen: Wo ist mein Weg?
Das ist ein wichtiger Schritt, den viele Familien gehen könnten. Aber die Überbewertung der Abschlüsse ist ganz tief in uns allen verwurzelt: „Man braucht doch Abitur.“
Dabei haben wir eine Lebenserwartung von 86 Jahren bei Frauen und 81 Jahren bei Männern. Und vielleicht bleibt man trotz Ausbildung kein Bäcker oder Schreiner, sondern wird dann Architekt. Aber wichtig ist die Sicherheit, diese Fähigkeiten erworben zu haben, das durchgezogen zu haben, handwerklich fähig zu sein. Das Wort „begreifen“ heißt nicht umsonst begreifen.
Es gibt nichts, was gegen eine Ausbildung spricht. Abgesehen davon haben wir hier im Landkreis einen dermaßen Nachfrage-Markt, dass man sich den Ausbildungsplatz aussuchen kann, mittlerweile wahrscheinlich sogar ohne Abschluss.
Auf welche Schüler*innen bist Du besonders stolz?
Auf alle, weil jede und jeder seinen Weg geht.
Es gibt Leute, denen fällt es sehr leicht. Die minimale Vorbereitungszeit für einen bestandenen Quali waren hier drei Tage. Und es gibt andere, die müssen zwei oder drei Jahre lang echt kämpfen. Sich einen guten Plan machen und durchhalten, sich jeden Tag hinsetzen und ihr Ding machen. Andere kümmern sich die ganze Zeit um andere und schaffen dann trotzdem ihre Prüfung.
Und wieder andere lernen in den zwei Jahren für sich selbst zu sorgen. Wahnsinn, was für eine Qualität da drinsteckt!
So ist in jedem dieser Wege etwas Kostbares und meine Aufgabe ist es oft nur, sie darauf hinzuweisen: Was du gerade machst, ist echt toll!
Aber jede und jeder geht seinen Weg.
Viele haben große Angst und es ist wichtig, diese Angst anzunehmen und sich dann hinzusetzen und etwas dagegen zu tun, sich gut vorzubereiten.
Hier haben unsere Schüler*innen das Privileg, schon bei der Vorbereitung auf die Große Montessori Arbeit viel gelernt zu haben.
Wovor sollen sie nach einer Präsentation vor mehr als hundert Leuten noch Angst haben bei einer mündlichen Prüfung?
Und wir hören auch jedes Jahr, das die Präsentationen unser Schüler*innen in den mündlichen Prüfungen spürbar besser sind als die der Regelschüler*innen.
Ich möchte niemand herausheben, denn auch in ganz kleinen Momenten tun sich neue Welten und Wege auf. Unser Privileg ist es, dass wir das erkennen dürfen und ab und zu vielleicht mal eine Tür aufmachen. Damit es ein bisschen leichter geht.
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